Tunesien: Zeit für einen Aufbruch

Universität Kassel

Treffen in Tunis: Mitglieder der Projektgruppen der Universität Kassel und ihrer tunesischen Partnerhochschulen

„Chancengerechtigkeit in Bildung und Wissenschaft“ lautete 2014 das Jahresthema des DAAD. Zum Abschluss der Artikelserie auf „DAAD Aktuell“ stellen wir ein deutsch-tunesisches Kooperationsprojekt vor, das sich besonders vielfältig mit Fragen nach Gerechtigkeit beschäftigt – von der Vergangenheitsbewältigung bis zum Wandel hierarchischer Strukturen im tunesischen Hochschulsystem.

Eine Gruppe deutscher und arabischer Wissenschaftler ist auf einer ungewöhnlichen Stadtführung in Tunis unterwegs. Die Teilnehmer des Rundgangs folgen ehemaligen politischen Gefangenen, die sie an Orte des Unrechts führen. Etwa zu den Schuttresten eines Gefängnisses, in dem sie inhaftiert und der staatlichen Willkür ausgeliefert waren. Eine Videoaufnahme hält die Erzählungen der ehemaligen Häftlinge fest. Wie gebannt hören die Forscher zu, die im Rahmen des deutsch-tunesischen Kooperationsprojekts „Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur“ zu einem Workshop in die tunesische Hauptstadt gekommen sind. Auch die Philosophieprofessorin Zeineb Ben Said-Cherni wird an diesem Sommertag von schlimmen Erlebnissen im Gefängnistrakt des Innenministeriums berichten. Als politische Oppositionelle verbrachte sie unter dem autoritären Regime von Habib Bourguiba Anfang der Siebzigerjahre einige Monate in Haft und wurde gefoltert. Sie ist eine der ersten Frauen in Tunesien, die sich über ihre Unrechtserfahrungen äußern.

Schweigen oder reden?

Ihr Schritt an die Öffentlichkeit war mutig und hat viel in Bewegung gesetzt. „Viele Teilnehmer unserer Führung waren überrascht“, sagt Dr. Sarhan Dhouib, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel und Leiter des vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amts geförderten interdisziplinären Kooperationsprojekts der Deutsch-Arabischen Transformationspartnerschaft. Selbst Professoren, die seit Jahren mit Zeineb Ben Said-Cherni an der Universität in Tunis zusammenarbeiten, wussten nichts von der Inhaftierung ihrer Kollegin. „Nach dem politischen Umbruch herrscht in der tunesischen Gesellschaft Schweigen und der Wunsch nach einem Schnitt mit der Vergangenheit“, beobachtet Dhouib. Der im südtunesischen Sfax geborene Wissenschaftler kam als DAAD-Stipendiat nach Bremen, promovierte über Schellings Identitätsphilosophie und versteht sich als Brückenbauer zwischen beiden Ländern. Engagiert setzt er sich für eine offene Auseinandersetzung mit den Strukturen und Erscheinungsformen von Diktaturen ein und fördert den Dialog mit Betroffenen, die aus eigener Erfahrung sprechen. „Die Begegnung mit Menschen, die selbst inhaftiert und gefoltert worden sind, macht die Themen Erinnerungskultur und Gerechtigkeit plötzlich greifbar – das geht jeden von uns an.“

Deutsch-tunesisches Kooperationsprojekt "Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur"

Blick auf die Vergangenheit: Szene beim Besuch der Avenue Habib Bourguiba (Foto: Universität Kassel)

Die Zeit der Angst ist vorbei

Nach dem politischen Umbruch sieht Dhouib die Zeit für einen Aufbruch in den Wissenschaften gekommen. „Bislang herrschte ein autoritäres Regime, die Studierenden haben sich vor allem mit unverfänglichen Themen wie der klassischen Literatur beschäftigt“, sagt er und erinnert sich an seine eigene Zeit als Student an der Universität Sfax. „Unsere Professoren lehnten sehr häufig alles ab, was die bestehenden Strukturen infrage stellte und ich musste in den Seminaren sehr vorsichtig sein mit dem, was ich sagte.“ Diese Zeit der Angst ist vorbei. Heute lesen die tunesischen Studierenden Autoren wie Durs Grünbein oder Herta Müller, sie führen kritische Diskurse zu deutscher und arabischer Exilliteratur und schreiben Arbeiten über den Gerechtigkeitsbegriff oder die Universalität von Menschenrechten.

Die Strukturen an den Hochschulen in Tunesien sind jedoch nach wie vor hierarchisch geprägt. Ein Ziel der Forschungskooperation zwischen den Universitäten in Kassel, Tunis und Medenine ist es daher, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu stärken. In den interdisziplinär und interkulturell angelegten Forschergruppen arbeiten Professoren und Dozenten mit Masterstudierenden, Doktoranden oder Postdocs eng zusammen. Das hilft der jungen Generation, Selbstbewusstsein im Umgang mit den Älteren zu entwickeln. „Wir beobachten, dass es den Jüngeren immer besser gelingt, ohne Scheu und mit überzeugenden Argumenten für ihre Themen einzustehen“, stellt Projektleiter Dhouib fest.

„Charakter einer Pionierarbeit“

Wie entstehen Unrechtserfahrungen und wie geht man damit um? Auf welche Weise leistet Literatur Widerstand in einer Diktatur und was geschieht mit Sprache, wenn sie von diktatorischen Machthabern verwendet wird? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. „Das Besondere an unserer Arbeit ist, dass wir Kollegen aus verschiedenen Fachbereichen zusammenbringen und Themen aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren“, betont Sarhan Dhouib. Philosophen, Historiker oder Ethnologen bringen ihre Sicht der Dinge ebenso ein wie Sprachwissenschaftler. Die deutsche Ethnologin Ina Khiari-Loch beispielsweise macht in Südtunesien Feldforschung. Sie fragt danach, wie sich ihre Interviewpartnerinnen an Situationen der Unrechtserfahrung erinnern und wie sie mit ihnen umgehen. Der tunesische Politolinguist Dr. Moez Maataoui wiederum, der in Heidelberg promovierte, kümmert sich an der Université de La Manouba um den wissenschaftlichen Nachwuchs und untersucht im Rahmen des Kooperationsprojekts die Sprache der Diktatur. Der DAAD-Alumnus schlüsselt Techniken und Strategien im Sprachgebrauch während des DDR-Regimes und im vorrevolutionären Tunesien auf. Politische „Flüsterwitze“, die man sich lieber hinter vorgehaltener Hand erzählt, kursierten demnach hier wie dort. „Die Zusammenarbeit in unserem interdisziplinären und interkulturellen Projekt ist sehr konstruktiv und hat den Charakter einer Pionierarbeit“, betont Maataoui. „Die Partnerschaft beruht auf vielen persönlichen Verbindungen und leistet an unseren Universitäten einen wesentlichen Beitrag auf dem Weg zu einer innovativen Lehre und Forschung.“

Gunda Achterhold (19. Dezember 2014)