"Europa als Chance"

privat

Blick über Nantes: Im Norden Frankreichs hat Oliver Guist manches über europäischen Zusammenhalt gelernt

Europa hat die Wahl: Wird das Zusammenwachsen des Kontinents weiter von einer breiten Mehrheit mitgetragen oder gewinnen populistische, europakritische Stimmen an Gewicht? Bevor die Bürger der Europäischen Union ein neues Parlament wählen, stellt das DAAD-Online-Magazin drei deutsche Erasmus-Stipendiaten vor, die in ihren Gastländern einen besonderen Blick auf das "Projekt Europa" haben.

Oliver Guist studiert seit Januar 2014 mit einem Erasmus-Stipendium an der Ecole Centrale de Nantes. In Frankreich ist er schnell herzlich empfangen worden: „Die jungen Menschen sind offen für Europa und die Ländergrenzen verschwimmen.

Die erste unvergessliche Geschichte, die Oliver Guist in Frankreich erlebte, handelt vom Singen. Schon bald war der Maschinenbauer von der Technischen Universität München (TUM) auf Studierenden-Partys eingeladen, denn Berührungsängste gegenüber dem Deutschen und anderen Erasmus-Studierenden aus europäischen Ländern gibt es an der Ecole Centrale de Nantes nicht: „Die Studierenden sangen im Lauf des Abends französische Lieder, eine Universitäts-Hymne zum Beispiel. Sie haben versucht, uns die Texte beizubringen, damit wir mitsingen konnten – das war berührend und beeindruckend für mich.

In Frankreich erlebte der Münchner Student bisher mehr Bewusstsein für die eigene Nation als in Deutschland, aber dennoch keine Ressentiments gegenüber dem europäischen Ausland. „Viele französische Kommilitonen sind selbst schon in andere Länder gereist, sind neugierig und betrachten Europa als Chance.“

Europapolitik ist Thema

Über Europa sprechen er und seine Mitstudierenden viel. „Es ist spannend für mich zu erfahren wie die Kommilitonen aus Frankreich, Polen, Weißrussland oder Italien auf Deutschland und die deutsche Politik blicken“, sagt der 28-Jährige. Auch Debatten über die politischen Ereignisse in der Ukraine sind aktuell an der Tagesordnung. Oliver Guist sieht sich längst als Europäer. „Ich habe mich schon immer als Deutscher und als Europäer gefühlt, aber durch meinen Aufenthalt in Frankreich kommt nun noch ein intensiveres Verständnis des französischen Nachbars hinzu.“

Typische Vorurteile, die unter Deutschen über den Nachbarn kursieren, hatten sich trotz seiner Liebe zu diesem Land auch in seinem Denken eingenistet, gibt Oliver Guist zu – zum Beispiel, dass die Franzosen einen nicht so schnell Anteil nehmen lassen würden oder dass man mit Englisch nicht weit komme. „Das ist Unsinn“, sagt er. „Im Gegenteil: Die jungen Europäer aus Frankreich, die zum Studium bevorzugt nach Spanien oder Schweden gehen, beherrschen selbstverständlich auch Englisch.“ Was sich für ihn bewahrheitet hat, ist jene Eigenschaft, die man hierzulande als „Laissez-faire“ beschreibt – eine größere Gelassenheit dem Leben gegenüber. Für seine eigene eher „typisch deutsche“ Neigung zum Beispiel zur Pünktlichkeit sei das manchmal eine Herausforderung, sagt der Wahlmünchner.

Zum Demonstrieren bereit

Oliver Guist hat auch Eigenheiten der Franzosen kennengelernt, die er wohl als Urlauber nie kennengelernt hätte – der sehr kritische Umgang mit der eigenen Regierung zum Beispiel. „Ich erlebe, dass man hier sehr schnell demonstriert, wenn einem etwas nicht passt und die eigene Regierung so unter Druck setzt.“ Dieses direkte Verhalten hat den Deutschen erstaunt. „Bei uns wird der Ärger zwar auch ausgesprochen, aber daraus folgt nicht allzu oft politisches Handeln.

Wenn Oliver Guist im Sommer nach München zurückkehrt, wird er seine Masterarbeit schreiben. In Nantes studiert er derzeit im vierten Semester im Masterstudiengang Maschinenbau. Die Ecole Centrale de Nantes ist Partneruniversität der TUM und so lag die Wahl, für ein Auslandssemester nach Frankreich zu gehen, für ihn nahe. „Ich wollte vor allem neben Englisch auch die französische Sprache für meine beruflichen Pläne unbedingt beherrschen.“ Seine berufliche Zukunft sieht Oliver Guist in der Luft- und Raumfahrt im Bereich Triebwerkstechnik. Seine Auslandserfahrung und seine sprachlichen Kompetenzen werden ihm auch dabei hilfreich sein. Wenn er einen Wunsch frei hätte, dann wäre der an die Zusammenarbeit europäischer Hochschulen gerichtet: „Damit das Erasmus-Programm weiter so positive Erlebnis ermöglicht, wie ich sie habe, sollten gerade Partneruniversitäten die Anerkennung der Leistungen noch verlässlicher abstimmen.

Bettina Mittelstraß (14. Mai 2014)

Weitere Artikel der Serie "Erasmus Stipendiaten vor der Europawahl 2014"