"Die größte Veränderung seit der Russischen Revolution"

DAAD

Einführungsseminar der Stipendienprogramme „Michail Lomonosov“ und „Immanuel Kant“ 2013 in Bonn: Kooperationen zwischen dem DAAD und der Russischen Föderation können durch die Reformen gewinnen; herausragenden Studierenden werden neue Chancen eröffnet

Die russische Hochschullandschaft erlebt einen tiefgreifenden, vieldiskutierten Wandel. Dr. Gregor Berghorn, Leiter der DAAD-Außenstelle Moskau, verfolgt die Entwicklungen wie nur wenige deutsche Experten. Im Interview spricht er über Chancen und Herausforderungen der aktuellen Reformen, den Einfluss auf die Arbeit des DAAD sowie das laufende EU-Russland-Wissenschaftsjahr.

Herr Dr. Berghorn, Russlands Hochschullandschaft ist im Wandel: Elite-Universitäten sollen entstehen, weniger effiziente Hochschulen geschlossen werden. Wie beurteilen Sie diese Veränderungen?

Wir erleben im Moment die größte Veränderung der Hochschullandschaft seit der Russischen Revolution. Es bildet sich gerade ein dualistisches System heraus: Auf der einen Seite 45 – eventuell künftig 50 – sogenannte Führende Universitäten, zu denen die beiden Staatsuniversitäten in Moskau, St. Petersburg, neun Föderale Universitäten und als weitere Gruppe die 34 Nationalen Forschungsuniversitäten zählen. Sie haben sich in einem Exzellenz-Wettbewerb durchgesetzt und erhalten beachtliche zusätzliche Mittel. Auf der anderen Seite sind die restlichen Universitäten, die künftig nur noch in Abhängigkeit der Anzahl eingeschriebener Studenten gefördert werden und verstärkt Drittmittel einwerben müssen, um überhaupt zu überleben.

Auch die Struktur der Akademie der Wissenschaften Russlands wird grundlegend verändert. Künftig lenkt eine staatliche Wissenschaftsagentur die Geschicke der Institute.

Der Kern dieser einschneidenden Reform ist, dass die Regierung der Akademie das Verfügungsrecht über die Liegenschaften entzieht. Das trifft vor allem die zentralen, im westlichen Teil Russlands gelegenen Institute der Akademie, die eigene Immobilien besitzen. Die Institute in den entfernten Regionen hatten keine eigenen Liegenschaften. Künftig verwaltet eine neu gegründete Wissenschaftsagentur der Akademie alle Liegenschaften. Zudem werden die Akademie der Wissenschaften, die Akademie der Medizinischen Wissenschaften und die der Landwirtschaftswissenschaften zu einer staatlichen Hauptakademie zusammengelegt. Die neue Akademie soll sich dann vor allem der Beratung von Wissenschaftsorganisationen und Bürgern widmen.

Wo wird denn dann noch geforscht?

Das ist die zentrale Frage. Zum einen sind da die Nationalen Forschungsuniversitäten, zum anderen Mega-Science-Projekte sowie das Innovationszentrum Skolkowo vor den Toren Moskaus. Für diese Forschungsaktivitäten hat die Regierung einen neuen Nationalen Förderfonds bereitgestellt. Die Akademien erhalten nur noch 20 Prozent der Forschungsmittel. Insgesamt ist das ein völliger Perspektivenwechsel.

Russland will mit den Reformen den Anschluss an die Weltspitze der Forschung schaffen. Sind die Hoffnungen berechtigt?

Ich denke schon, aber die Forschung wird nicht dadurch automatisch besser, dass man viel Geld investiert und neue Strukturen schafft, es braucht auch die klugen Köpfe dafür. In den 1990er-Jahren hat sich fast eine ganze Generation von der Wissenschaft abgewandt, die Akademien waren überaltert. Um junge Menschen wieder für die Forschung zu gewinnen, gibt Russland für Nachwuchswissenschaftler künftig mehr Geld und lockert gesetzliche Bestimmungen. Die Universitäten können nunmehr talentierte Wissenschaftler in der Forschung halten und exzellente Jungforscher aus dem Ausland locken. Eine Reihe deutscher Wissenschaftler arbeitet beispielsweise derzeit an großen russischen Universitäten. Das ist ein Novum.

Wie beeinflussen diese Reformen die Arbeit des DAAD?

Mit einer gewissen Verzögerung hat das in jedem Fall Auswirkungen auf unsere Arbeit. Es wird eine Verschiebung an der Basis entstehen. Wenn jetzt junge Leute aus den Regionen die Möglichkeit haben, an den renommierten Unis zu studieren, sind sie in vier Jahren mit dem Grundstudium fertig. Danach machen sie den Master und werden gleichzeitig für die DAAD-Programme relevant, weil sie dann mit DAAD-Stipendien nach Deutschland kommen können. Die Qualität der Studierenden nimmt durch den Wettbewerb zwischen den Hochschulen zu. Wir spüren das auch schon jetzt bei Doktoranden: Das sind sehr gute Nachwuchswissenschaftler, die aus den nationalen Forschungsuniversitäten kommen.

Das Jahr 2014 ist das EU-Russland-Jahr der Wissenschaft. Steht das nun unter einem besonderen Stern wegen der vielen Reformen in Russland?

Das Wissenschaftsjahr ist nicht darauf angelegt, die Wissenschaftsbeziehungen zwischen Russland und der EU zu steuern. Es gibt Vorträge, die EU-Kommission präsentiert ihre Forschungsprogramme. Mehr wird das nicht sein, weil sich die EU nicht in Angelegenheiten Russlands einmischen will. Sie kann aber auf die Vorteile einer ausgewogenen Forschungsförderung hinweisen, in der nicht nur wie in Russland die Naturwissenschaften besonders stark sind, sondern auch andere Disziplinen gefördert werden.

Was trägt der DAAD zu diesem Wissenschaftsjahr bei?

Wir werden im Oktober zum vierten Mal die Deutsch-Russische Woche des jungen Wissenschaftlers in St. Petersburg veranstalten und haben uns erstmals für ein nicht-technisches Thema entschieden. Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, darüber werden wir auf der Veranstaltung diskutieren.

Benjamin Haerdle (19. Februar 2014)

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DAAD-Außenstelle Moskau