Vietnam: Bildung und Wissenschaft

Studierende am Rednerpult ihrer Dozentin.

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Blog "Vietnam - Chancenreicher Bildungsmarkt" 
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Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks stand Vietnam vor der Herausforderung, das eigene Hochschulwesen, das sich bis 1991 stark an sowjetisch geprägten Strukturen orientierte, neu auf- beziehungsweise auszubauen. Die bildungspolitische Elite des Landes hatte zu Tausenden ihre akdemische Ausbildung in Staaten des Ostblocks erhalten, vielfach in der damaligen DDR. Bis heute besetzen viele dieser Absolventen Schlüsselpositionen im öffentlichen Leben Vietnams.

Anfang der 1990er Jahre begann man mit der Einführung von Masterstudiengängen und 1993 beendete schließlich eine Regierungsverordnung das osteuropäische Modell akademischer Grade und Titel. Die universitäre Qualifizierung erfolgt seither in vier Stufen:

• Associate Degree (cao dang, berufsbildender Abschluss): drei Jahre Dauer, kann an Junior Colleges und einigen Universitäten erworben werden, ähnlich einem Diploma.

• Bachelor Degree (cu nhan): vier bis sechs Jahre Dauer; sechs Jahre für Medizin, fünf Jahre für Ingenieurinnen und Ingenieure, und vier Jahre für die restlichen Fächer. Absolventinnen und Absolventen erhalten einen ihrem Studiengang entsprechenden Abschluss, zum Beispiel cu nhan (Bachelor) oder ky su (Ingenieur) oder bac sy (Doktor).

• Master’s Degree (thac si): Die Dauer ist zwei Jahre in Vollzeit oder drei Jahre in Teilzeit. Absolventen eines Bachelorstudiums können einen Master anschließen.

• Promotion (PhD, tien si): Masterabsolventen oder exzellente Bachelorabsolventen in Ausnahmefällen. Kandidaten, die erfolgreich ihre Dissertation verteidigt haben, können in ihrem Fachbereich einen Doktortitel führen. Es kann sieben bis neun Jahre dauern, an einer vietnamesischen Hochschule einen Doktortitel zu erwerben, für viele Masterabsolventen dauert es mittlerweile aber nur noch vier Jahre.

Die Hochschulzugangsberechtigung wird seit 2015 mit der Nationalen Oberstufenprüfung festgestellt. Für die Prüfung Mitte August 2020 haben sich rund rund 900.000 Schulabgängerinnen und -abgänger angemeldet, davon etwa 643.000 (minus 1,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr) um sich für einen Studienplatz an einer der 237 Universitäten (davon 65 nicht-staatliche) oder einem der rund 450 Colleges (Cao Dang: keine Hochschulen im engeren Sinn, sondern nach deutschen Kriterien eher der Berufsbildung zuzuordnen) zu qualifizieren.

 

Die Gesamtzahl der in Vietnam an Universitäten eingeschriebenen Studierenden betrug im Studienjahr 2018/19 1,63 Millionen Personen; davon studierten 93,4 Prozent in einem Bachelor Studiengang (1,53 Millionen), 5,9 Prozent (97.134) strebten einen Masterabschluss an, und nur 11.000 waren zur Promotion eingeschrieben (0,7 Prozent) (Ministry of Education & Training). Seit 2014 ist aber, nach zuvor Jahren starken Anstiegs, die Zahl der Studierenden um 15,2 Prozent zurückgegangen. Auch die Studierendenquote ist seit 2014 leicht auf 28,3 Prozent (2017) gesunken.

Fast alle Hochschulen unterstehen der umfassenden Aufsicht des Ministry of Education and Training (MoET), sind jedoch oft noch zusätzlich den jeweiligen Fachministerien wie Landwirtschaft, Gesundheit, Justiz oder den örtlichen Volkskomitees zugeordnet, was die Einhaltung einheitlicher Standards erschwert. Im Zuge des von der Regierung eingeleiteten Reformprozesses, den Hochschulen mehr Autonomie zu gewähren, beteiligen sich seit 2015 23 vietnamesische Hochschulen an einem Pilotprojekt und sammeln Erfahrungen mit Autonomie zum Beispiel bei der Leitung und Verwaltung einer Hochschule, bei Personalentscheidungen oder bei der Gestaltung von Studienprogrammen. Die von der Regierung gewünschte und verordnete Hochschulautonomie stößt aber nicht überall auf Begeisterung, denn mit ihr soll auch die automatische Grundfinanzierung der Hochschulen schrittweise abgeschafft und die Hochschulfinanzierung von pauschalen Mittelzuweisungen auf ein wettbewerbliches leistungsorientiertes System umgestellt werden. Hochschulen sollen sich nun zu einem Großteil durch Studiengebühren, durch Drittmitteleinnahmen vor allem in der Forschung sowie durch Dienstleistungsangebote finanzieren. Vollautonome Hochschulen bekommen inzwischen keinerlei Grundfinanzierung mehr, und auch bei anderen Hochschulen sinkt der staatliche Finanzierungsanteil zunehmend und macht teilweise nur noch fünf Prozent eines Hochschuletats aus. Nach Angaben des Finanzministeriums betrugen die öffentlichen Bildungsausgaben 2019 (https://www.mof.gov.vn/webcenter/portal/btc/r/cddh/sltn5/bcnsnnhn92) insgesamt 244 Milliarden Vietnamesische Dong (VND, umgerechnet rund 9,8 Milliarden Euro, 1 Euro = 25.000 VND), also rund 15 Prozent der Staatsausgaben.

Für fünf Hochschulen, die laut MoET das Potential internationaler Wettbewerbsfähigkeit haben, soll es eine zusätzliche Finanzierung zur Stärkung der Forschungsaktivitäten geben. Bei diesen Hochschulen handelt es sich um die beiden Nationaluniversitäten, die HUST, die Danang University sowie die Vietnamese-German University (VGU), die eine Vorreiterrolle als autonome Forschungsuniversität in Vietnam spielen soll.

Das langfristige Ziel der Regierung ist es, Vietnam in eine wissensbasierte Industriegesellschaft zu transformieren und die notwendigen Fachkräfte für die sozioökonomische Entwicklung im Zeitalter von Industrie 4.0 auszubilden. Die Regierung ist ernsthaft bemüht, die Qualität der Universitäten zu verbessern. Als wesentliche Voraussetzung sollen alle vietnamesischen Hochschulen in den kommenden Jahren die volle Autonomie erhalten und in ein wettbewerbsorientierteres Hochschulsystem mit einem klaren Anteil privater Hochschulen überführt werden. Vor einigen Jahren war dies im vietnamesischen Hochschulsystem sowjetischer Prägung noch undenkbar

Das Hochschulgesetz von 2012, das erste seiner Art in Vietnam, schuf einen gesetzlichen Rahmen für eine differenzierte Hochschullandschaft mit Forschungsuniversitäten, Hochschulen mit dem Schwerpunkt auf der Lehre und berufsbildenden Colleges. Zudem wurde die Autonomie der Hochschulen gesetzlich festgeschrieben, allerdings noch mit vielen offenen Fragen.


Mit der Novellierung des Hochschulgesetzes 2018 konnten einige dieser wichtigen Fragen geregelt werden: Autonome Hochschulen können nun selbständig Studienprogramme und Fachbereiche einrichten, mit Ausnahme der Bereiche Gesundheit, Lehrerausbildung, Sicherheit und Verteidigung, die die nationalen Interessen in besonderem Maße betreffen. Voraussetzung für die Autonomie ist, dass die Hochschulen akkreditiert sind und wichtige Informationen transparent machen wie Prüfungsergebnisse, die Absolventenquote und Qualitätssicherungsmaßnahmen. Weiterhin muss ein unabhängiger Hochschulrat eingerichtet werden, der unter anderem für die strategische Entwicklung und die Besetzung der Hochschulleitung verantwortlich ist. Ihm darf auch ein Nicht Akademiker, also zum Beispiel ein Vertreter der Wirtschaft, vorstehen. Das novellierte Gesetz trat am 1. Juli 2019 in Kraft.

Zuvor hatte die vietnamesische Regierung bereits 2005 in ihrer „Higher Education Reform Agenda“ (HERA) folgende – bis 2020 zu erreichende – Hauptziele formuliert:

• Aufbau eines Hochschulnetzes, das Vietnams sozioökonomische Entwicklung unterstützt und ermöglicht.

• Entwicklung eines Hochschulcurriculums, das Forschung ermöglicht, Studierende arbeitsmarktgerecht ausbildet, Qualitätssicherung gewährleistet und von akkreditierten Hochschulen eingesetzt wird.

• Fortsetzung des Wachstums des Bildungsmarktes in Qualität und Quantität und weitere Steigerung der Zahlen eingeschriebener Studierender.

• Verbesserung der Qualifikationen von Hochschulpersonal mit dem Ziel, ein 20:1 Verhältnis zwischen Studierenden und Dozentinnen und Dozenten zu erreichen, und mindestens 60 Prozent des gesamten wissenschaftlichen Personals mit Masterabschluss und mindestens 35 Prozent mit Promotion zu beschäftigen.

• Ausbau wissenschaftlich-technologischer Forschung und Entwicklung an Schlüsseluniversitäten mit dem Ziel, mindestens 25 Prozent des Umsatzes einer Hochschule aus diesen Aktivitäten zu generieren.

 

Etliche in HERA angestrebte Ziele konnten bis 2020 nicht erreicht werden (zum Beispiel Anteil des entsprechend qualifizierten wissenschaftlichen Personals). Zudem deckt die Studierendenzahl den Bedarf in zahlreichen Fachgebieten bei weitem nicht ab, andererseits weisen rund 200.000 arbeitslose Hochschulabsolventen darauf hin, dass es eine Lücke zwischen der Qualität der Hochschulausbildung und den Anforderungen eines modernen und sich rasch wandelnden Arbeitsmarktes gibt. Die Qualität der Ausbildung sowie die Anzahl der Absolventinnen und Absolventen im tertiären Bildungsbereich haben mit der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre nicht Schritt gehalten und werden dem heutigen Bedarf Vietnams nicht mehr gerecht. Zu den weiteren Problemen des Bildungssystems zählen eine trotz einer umfassenden Antikorruptionskampagne von grassierender Korruption geplagte Administration, eine oft unzureichende materielle Ausstattung der Lehreinrichtungen, Qualitätsmängel bei der Ausbildung der Lehrkräfte, die Überfrachtung der oft praxisfernen Lehrpläne oder die schlechte Bezahlung der Lehrkräfte, die ihre Gehälter durch überfrachtete Lehrdeputaten aufbessern, dafür dann aber keine Zeit mehr für Forschungsarbeiten haben.

Daher arbeitet das MoET zurzeit an einem neuen Masterplan für die Universitäten. Neben der Autonomie sollen Themen wie Internationalisierung, Hochschulmanagement, akademische Freiheiten und Anreizsysteme sowie eine arbeitsmarktgerechte kompetenzorientierte Ausbildung mehr Bedeutung erlangen. Die Lehrqualität will das MoET durch besser ausgebildete Hochschullehrkräfte erhöhen. Auch Forschung und Innovation sollen zukünftig mehr Gewicht an den vietnamesischen Hochschulen bekommen, die bisher zum großen Teil eher in der Lehre tätig sind.

Die Entwicklung der vietnamesischen Hochschulen in den vergangenen 20 Jahren zeigt bei allen noch bestehenden Herausforderungen eine positive Tendenz in Richtung eines eigenständigen Hochschulsystems mit autonomen und international integrierten Universitäten. Viele vietnamesische Hochschulen arbeiten derzeit ihre Curricula um und ergänzen sie durch mehr Praxisbezug. Praxispartner aus der privaten und öffentlichen Wirtschaft sollen mehr in die Studienprogramme einbezogen werden, um den Anteil von praktischem und anwendungsbezogenem Wissen und Kompetenzen, der bisher unter 10 Prozent liegt, deutlich zu erhöhen. Dabei sollen sie beispielsweise die Curriculum-Entwicklung unterstützen, als Gastdozentinnen und -dozenten praktische Fallbeispiele erläutern oder Studierenden Praxiserfahrungen in den Betrieben vermitteln. Aber dieser Prozess steht noch am Anfang, die Loslösung von langjährigen Traditionen braucht seine Zeit. Beispielsweise erfordert ein kompetenzorientierter und partizipativer Unterricht statt Vorlesung und Wiedergabe des Gehörten neue praxisorientierte Lehr- und Lernmethoden und damit auch in der Regel eine neue bzw. anders ausgebildete Generation von Hochschullehrenden. Sowohl die Regierung als auch die Studierenden und ihre Eltern legen sehr großen Wert auf Bildung und Wissenschaft und sind zu entsprechenden Reformen und Investitionen bereit. Hier liegt die große Chance, ähnlich wie in China, Japan und Südkorea ein leistungsstarkes Bildungs- und Wissenschaftssystem aufzubauen, das deutschen Hochschulen sehr gute Kooperationsmöglichkeiten bietet.

Verfasser: DAAD-Außenstelle Hanoi

Der DAAD ist in Vietnam mit einem Informationszentrum in Ho-Chi-Minh-Stadt und einer Außenstelle in Hanoi vertreten, die auch für Laos, Kambodscha und Myanmar zuständig ist. Darüber hinaus gibt es Lektorate an der Nationaluniversität Hanoi, der TU Hanoi, der Hanoiuniversität sowie der Nationaluniversität Ho-Chi-Minh-Stadt.