Tunesien: Bildung und Wissenschaft

Studierende am Rednerpult ihrer Dozentin.

Inhalt

DAAD-Regionalinformationen
Stärken und Schwächen - Herausforderungen und Chancen
Aktuelle Situation
Individuelle Beratung zu Wissenschaftskooperationen mit Tunesien
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Tunesien hat in den letzten Jahren enorme Anstrengungen unternommen, um eine wissensbasierte Transformation der Gesellschaft einzuleiten. Wissen und Technologie werden als entscheidende Faktoren für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes gefördert. Rund 18 Prozent des Staatshaushaltes fließen in den Bildungssektor (Bildungs- und Hochschulministerium), wobei der deutlich größere Teil an das Bildungsministerium geht. Die landesweite Analphabetenrate liegt derzeit bei 18,2 Prozent. Es werden Anstrengungen unternommen, die gute Einschulungsquote auf hohem Niveau zu halten und gleichzeitig die wachsende Zahl der Schulabbrecher zu verringern. 

Das tunesische Bildungs- und Hochschulsystem ist nach französischem Vorbild organisiert. Nach der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich (1956) wurde der unter französischer Kolonialherrschaft aufgebaute Bildungssektor nicht grundsätzlich reformiert. Allerdings wurden ab 1958 die Curricula, Fakultäten und Schulen "arabisiert". Das tunesische Bakkalaureat wird als direkter Hochschulzugang auch in Deutschland anerkannt. 
Es gibt 3 Hochschultypen: Fakultäten, Institute und Ecoles sowie eine anwendungsorientierte Ausbildung an staatlichen ISETs (Institut Supérieur d’Etudes Technologiques), die der Direction Générale des Etudes Technologiques untergeordnet sind. 
Sie bieten dreijährige Studienprogramme mit stärkerem Praxisanteil, Pflichtpraktika und einem angewandten Bachelorabschluss als Technicien Supérieur. Anders als die licence fondamentale, die als Bachelorabschluss gilt, wird die licence appliquée gelegentlich von deutschen Hochschulen als nicht gleichwertig mit dem Bachelor anerkannt. 

Das System der Ecoles betrifft hauptsächlich die Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften. 
Tunesien verfügt über ein dichtes und gut ausgestattetes Hochschulnetz von 314 Einrichtungen im Hochschulbereich, darunter 240 im staatlichen Sektor mit 13 staatlichen Volluniversitäten und insgesamt 227 Fakultäten, Instituten und Ecoles. Im Studienjahr 2018-2019 waren insgesamt 233.692 Studierende an staatlichen Hochschulen eingeschrieben (im Vorjahr: 241.084).  Die Gesamtzahlen immatrikulierter Studierender verzeichnen in den letzten Jahren einen kontinuierlichen Rückgang. Dieser ist u.a. mit der Verlangsamung des Bevölkerungswachstums begründet und der relativ hohen Schulabbrecherquote (ca. 100.000 pro Jahr). Zudem werden Programme zur Berufsausbildung (gefördert von internationalen Organisationen) als Alternative zum Hochschulstudium wahrgenommen. 

Private Bildungsanbieter erleben hingegen einen Boom: Immer mehr private Hochschulen werden gegründet. Im akademischen Jahr 2018/2019 sind 33.462 Studierende an insgesamt 74 privaten Hochschulen in Tunesien eingeschrieben. Im Vergleich zum staatlichen Sektor gibt es hier einen Anstieg von knapp 7 Prozent, (Zahlen im Vorjahr: 31.177). Private Hochschulanbieter sind flexibler und reformfreudiger und haben in der Regel stärker die Beschäftigungsfähigkeit im Blick. Es ist zu vermuten, dass die Zahlen in den nächsten Jahren hier konstant bleiben. Private Hochschulen sind kostenpflichtig. Die Studiengebühren liegen zwischen 3.000 und 5.000 US $ pro Jahr (Betrag abhängig von der Nationalität).  
Der tunesische Staat garantiert jedem Abiturienten Hochschulzugang zu einem gebührenfreien Studium an staatlichen tunesischen Hochschuleinrichtungen (es fallen Verwaltungsgebühren zwischen 20 US $ und 130 US $ an). Öffentliche tunesische Hochschulen werden fast zu einhundert Prozent vom Staat finanziert.

Es gibt eine vielfältige Forschungslandschaft in Tunesien mit 63 Forschungszentren, 607 Forschungslabore und Forschungseinheiten sowie 37 Ecoles doctorales (Graduiertenkollegs). Alle 13 Universitäten in Tunesien betreiben Forschung. Mit etwa 70 Prozent sind sie maßgeblich für die Forschungsaktivität verantwortlich. Die Forschungsaktivität an tunesischen Hochschulen ist – gemessen an der Zahl der Labore und Forschungseinheiten – unterschiedlich: Quantitativ führt die Universität Tunis El Manar mit 53 Laboren und 62 Forschungseinheiten. An staatlichen Forschungszentren wird auch Lehre (grundständig, Master, PhD) angeboten.

Die Finanzierung wird vollständig mit öffentlichen Mitteln sichergestellt. 2018/2019 sind 11.629 Doktoranden in Tunesien eingeschrieben. Sind die Zahlen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, so sind sie dieses Jahr erstmalig zurückgegangen (13.742 im Vorjahr). Viele haben sich in der Vergangenheit für eine Promotion entschieden, um vor der drohenden Arbeitslosigkeit zu fliehen. Aktuell gibt es jedoch 4.000 arbeitslose Promovierte, die nach passenden Jobs suchen, während weitere knapp 14.000 Doktoranden in den kommenden Jahren auf den Arbeitsmarkt drängen werden. Viele von ihnen wünschen sich eine Stelle im staatlichen Sektor. Trotz Pandemie demonstrieren seit Sommer 2020 täglich Doktoranden und Promovierte vor dem tunesischen Hochschulministerium und verlangen eine

Einstellungsgarantie. Das Ministerium ist den Demonstrierenden entgegengekommen und hat ihnen Posten im öffentlichen Sektor versprochen, besteht jedoch darauf, dass der allgemeine Concours erfolgreich durchlaufen werden muss. 
Mit 74 privaten Hochschulgründungen, 13 öffentlichen Volluniversitäten und über 300 staatlichen Forschungseinheiten ist eine vielfältige Bildungslandschaft entstanden, die Tunesien zu einem regionalen „Hub“ und attraktiven Standort in Lehre und Forschung für internationale Studierende, insbesondere aus Afrika-Subsahara macht. Als Branchen mit Zukunft gelten IT, Energie, Agrarsektor, Gesundheitswesen. 

Schulen und das sekundäre Bildungssystem ressortieren beim Erziehungsministerium (Ministère de l'éducation). Die Hochschulen und die diesen zugeordneten Institute werden vom Hochschul- und Forschungsministerium (MESRS) beaufsichtigt. Auf der operativen Ebene werden die Entscheidungen des MESRS mit dem Rat der Universitäten (Majlis al-Jamiat) abgesprochen, der sich aus den Präsidenten aller tunesischen Universitäten zusammensetzt. Die Zuständigkeit für die berufliche Aus- und Weiterbildung liegt beim Ministerium für Beschäftigung und Berufsbildung. 

Stärken und Schwächen - Herausforderungen und Chancen

Das tunesische Bildungssystem genießt einen guten Ruf auf dem afrikanischen Kontinent. Die tunesische Ausbildung hat ihre Stärken in der fachlichen Primär- und Grundausbildung und in dem multilingualen Ansatz. Sie ist aber auch theorielastig, wenig anwendungs- und praxisorientiert, es mangelt an innovativem und analytisch-kritischem Denken. Vor allem Sprachkenntnisse, Soft Skills, Flexibilität sowie Praxis- und Anwendungsorientierung von Wissen sind Kompetenzen, die tunesische Schul- und Hochschulabsolventinnen und -absolventen nicht mitbringen. Viele „Hoch“-Qualifizierte werden nicht eingestellt, weil ihre Ausbildung für den Bedarf der (privaten) Unternehmen nicht ausreicht („skills mismatch“). Reformen der vergangenen Jahre betreffen insbesondere die Einführung des dreistufigen Bologna-Systems (LMD), was einen tiefgreifenden Wechsel in der Struktur der tunesischen Hochschulen bedeutet. Die akademischen Abschlüsse an den tunesischen Hochschulen sind nach Licence (Bachelor) 180 ECTS, Master 120 ECTS und Doktorat strukturiert. Das Studium der Medizin (acht Studienjahre), Zahnarzt-, Pharmazie- und Architekturstudium (sechs Studienjahre) und der Bereich der Ingenieurwissenschaften (mit cycle préparatoire fünf Studienjahre) bilden Ausnahmen. 

Errungenschaften der 2011er-Revolution im Hochschulbereich sind Meinungs- und Forschungsfreiheit und eine öffentliche – auch politische – Diskussionskultur. Hochschulleitungen werden gewählt (und nicht mehr ernannt) und setzen eigene Profile im Kontext des soziokulturellen Umfelds. Neben der Hauptstadt haben sich renommierte Hochschulzentren an der Ostküste (Sousse, Monastir und Sfax) etabliert, die mit dort ansässigen Unternehmen und Industrie zusammenarbeiten. Es gibt Ansätze von Hochschulautonomie, der Management- und Entscheidungsfreiraum ist aber sehr begrenzt. Tunesische Hochschulen wünschen sich mehr Autonomie in finanziellen, personellen und akademischen Bereichen und hoffen auf mehr Mitsprache und Transparenz in der hochschulpolitischen Entscheidungsfindung. Selbstverwaltung, Good-Governance und Markorientierung von Lehre und Forschung sind noch Meilensteine für Hochschulen und Forschungsinstitute, die über keine eigenen Strukturen für Öffentlichkeitsarbeit oder Internationalisierung verfügen. Beklagt wird, dass es zu wenig Anreiz und Handlungsspielraum für Engagement und Wettbewerbsfähigkeit gibt, um international agieren und kooperieren zu können.

Aktuelle Situation

Hauptaufgaben des Landes sind nach wie vor das Wirtschaftswachstum (erwartet für 2021: 4 Prozent) , die Schaffung von Arbeitsplätzen und Beschäftigungsfähigkeit von Absolventinnen und Absolventen, Korruptionsbekämpfung sowie Modernisierung und Reform der Verwaltung. Ein arbeitsmarktpolitisches Konzept zur Bekämpfung der Probleme ist nicht erkennbar. Tunesien wird vom IWF als risikobehaftetes Land eingestuft. Durch die Coronapandemie ist Tunesiens Wirtschaft erheblich unter Druck geraten. 2021 soll ein neuer, an Reformen gebundener Kredit mit dem IWF verhandelt werden. Der IWF fordert u.a. eine Reduzierung der überproportional hohen Staatsausgaben für Gehälter im öffentlichen Dienst. Davon wäre auch der Hochschulsektor betroffen. 
Zehn Jahre nach der Revolution vermissen viele ein staatsbürgerliches Bewusstsein. Angeprangert werden die schlechte Arbeitshaltung und Unproduktivität mit häufigen Streiks, eine fehlende Steuermoral und die hohe Korruption. Einerseits beklagen Unternehmen, dass sie keine Fachkräfte und gut ausgebildete Hochschulabsolventinnen und -absolventen finden (es fehlen insbesondere Arbeiter in der Landwirtschaft und auf dem Bau), andererseits sind etwa 30 Prozent der 30.000-40.000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt drängen, arbeitslos und ohne Perspektive, weil sie nicht adäquat ausgebildet sind. 

Das Risiko arbeitslos zu sein, steigt mit dem Bildungsgrad. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote liegt bei 14,9 Prozent, bei Hochschulabsolventinnen und -absolventen jedoch mit 29 Prozent nahezu doppelt so hoch. Signifikant ist die steigende Zahl der Abwanderung von Akademikerinnen und Akademikern ins Ausland. Mehr als 70 Prozent der tunesischen Migrantinnen und Migranten haben eine weiterführende Schule besucht oder einen akademischen Hintergrund. Mit einem Anteil von 41,8 Prozent gingen die meisten Ausgewanderten nach Frankreich (16,1 Prozent sind nach Libyen ausgewandert, 13,1 Prozent nach Italien und 4,5 Prozent nach Deutschland.  Auch die Golfstaaten und Kanada erfreuen sich einer immer größer werdenden Beliebtheit. Beide Regionen rekrutieren aktiv junge Tunesierinnen und Tunesier. Es gibt vereinzelt auch Migrationsbüros, die die jungen Leute beim Auswanderungsprozedere begleiten. 
Niedrige Wachstumsraten (2020 lag diese pandemiebedingt sogar mit minus 7 Prozent im negativen Bereich) 2020 können die Arbeitslosigkeit nicht reduzieren.  Auch die einst gut situierte Mittelschicht gerät in Tunesien zunehmend in eine prekäre Lage. Laut Weltbank ist die Kaufkraft der Tunesierinnen und Tunesier um 88 Prozent gesunken. Gründe dafür sind die steigende Inflationsrate (2021: voraussichtlich 5,3 Prozent) und die wachsende Arbeitslosigkeit. 

Es wächst der Druck auf Hochschulen und Bildungsministerien: insbesondere fehlende Beschäftigungs- und Berufsperspektiven von jungen Leuten und Hochschulabsolventinnen und -absolventen waren Hauptursachen der Protestbewegung der sogenannten „Jasminrevolution“ im Januar 2011. Eine tickende Zeitbombe, wenn nicht bald Strategie und Lösungsansätze für die hohe Akademikerarbeitslosigkeit, Nachwuchsprobleme an Hochschulen, Qualitätsmanagement und Akkreditierung, Wettbewerbsfähigkeit und Internationalisierung u.a. angegangen werden. Eine grundlegende Reform und Modernisierung des Hochschulwesens sind überfällig. 2017 hat das Hochschulministerium begonnen erste Karrierezentren (4C) an staatlichen Hochschulen im ganzen Land zu etablieren. An 4Cs sollen Studierende soft skills, Sprachen und praxisorientierte Fertigkeiten erlernen, die im Curriculum nicht vermittelt werden. Die Karrierezentren sind heute zum Teil zwar noch aktiv (161 Zentren, 19.124 Nutzerinnen und Nutzer/Studierende, die von dieser Einrichtung profitiert haben), allerdings haben die 4Cs mittlerweile deutlich weniger Sichtbarkeit und Effizienz. Gut illustrieren kann man das anhand der Arbeitsplätze, die Dank der Kooperationen mit der Industrie und NGOs vermittelt werden konnten: 2019 wurden 259 Arbeitsplätze vermittelt, mit Stand 2021 sind es nur 276, ein minimaler Anstieg innerhalb von zwei Jahren. 

Neue Modelle werden auch für Studienprogramme in enger Zusammenarbeit mit der Industrie erprobt, der Master „Co-Construit“ z.B. will stärker anwendungsnahe Module und Praktika in der Industrie in die Lehrpläne einbauen. Deutschland dient dafür als Modell für Hochschulformen und für best-practice Beispiele z.B. angewandter Forschung (Verbindung Industrie-Hochschule wie Fraunhofer Institut). 

Verfasserin: DAAD-Außenstelle Tunis

Der DAAD ist in Tunesien mit einem Informationszentrum in Tunis vertreten. Neben diesem Büro fördert der DAAD jeweils ein Lektorat an der Universität Manouba, Carthage (ISLT) und an der Universität Gabès (ISLG).