Timothy Garton Ash ist ein leidenschaftlicher Europäer. Als Professor für Europäische Studien forscht er an den Universitäten Oxford und Stanford. Der britische Historiker, Publizist und Autor gilt als eine der einflussreichsten Stimmen in Europa. Er publiziert in internationalen Medien und wurde 2017 mit dem Karlspreis geehrt.  

Interview von Gunda Achterhold 

Timothy Garton Ash
Professor Garton Ash, im Juli 1978 fuhren Sie mit einem dunkelblauen Alfa Romeo über die holprige Transitstrecke durch die DDR nach Westberlin. Ein junger Engländer, mit schweren Schuhen und Tweedjackett. In der Tasche: ein DAAD-Stipendium für die Freie Universität Berlin. Was zog Sie mit Anfang zwanzig auf diese „Insel“ im Osten Deutschlands? 

Drei Dinge gleichzeitig: Erstens, die Geschichte. Man muss sich vergegenwärtigen, dass wir 1978 näher an dem Jahr des Kriegsendes 1945 waren, als wir es heute zum Jahr des Mauerfalls 1989 sind. Die Geschichte des Dritten Reiches, zu dem ich damals für meine Doktorarbeit forschte, war uns sehr nah. Ich war fasziniert von der Frage, wie in einer Kulturnation wie Deutschland so eine Barbarei geschehen konnte. Dieses Phänomen bezeichne ich als „Goethe-Eiche“, nach der alten Eiche in Weimar, unter der Goethe schrieb, und die später auf dem Gelände des Konzentrationslagers Buchenwald stand. Das Höchste und das Tiefste an einem Ort. 

Was war der zweite Grund?

Damals war Westdeutschland, die Bundesrepublik, der Inbegriff von Modernität, von wirtschaftlichem Erfolg. Zumal im Vergleich zu einem Großbritannien, das damals wirklich in der Krise steckte – man nannte es den „kranken Mann Europas“. Und der dritte Aspekt war eben die Faszination der geteilten Stadt – inmitten eines geteilten Landes, inmitten eines geteilten Kontinents, inmitten einer geteilten Welt. Dieser Aspekt war es letztlich, der den weiteren Kurs meines Lebens entscheidend geprägt hat. 

Nach dem Stipendium in Westberlin reisten Sie Anfang 1980 über den Checkpoint Charlie als Forschungsstudent in die DDR. Das war sehr ungewöhnlich, was wollten Sie dort? 

Ich war der erste Austauschstudent zwischen Großbritannien und der DDR überhaupt. Im Rahmen eines neuen Kulturabkommens beider Länderforschte ich an der Humboldt-Universität, bezahlt wurde ich in Ostmark. In meiner Doktorarbeit beschäftigte ich mich mit dem faszinierenden Berlin der Weimarer Republik und der Frage, was den einen zum Mitläufer, zum Nazi macht, und den anderen zum Widerstandskämpfer. Hier ein Stauffenberg, dort ein Speer. Und ich stellte fest, dass die Menschen in der DDR, also hinter der Mauer, in Echtzeit vor solchen Dilemmata standen. Natürlich nicht so dramatisch wie im Dritten Reich. Aber sie standen eben doch vor der Frage: Wie geht man um mit einer Diktatur? Und so kam es, dass ich mein erstes Buch nicht über Berlin im Dritten Reich schrieb, sondern über die DDR. 

In Ihrem 1997 erschienenen Buch „Die Akte Romeo“ gleichen Sie nach dem Untergang der DDR Ihre Stasi-Akte mit Ihren Tagebuchaufzeichnungen ab. Hat diese Rückschau Sie einer Antwort auf die Frage „Stauffenberg oder Speer“ nähergebracht? 

Über dieses Forschungsprojekt, in dessen Mittelpunkt ich selbst stand, hatte ich Zugang zu den Akten sowohl der Informellen Mitarbeiter (IM) als auch der Stasi. Ich sprach mit einigen von ihnen und brachte so beide Seiten zusammen. Viele der Stasi-Offiziere, mit denen ich sprach, sind ohne Vater groß geworden. Die Väter waren im Krieg gestorben oder verschollen oder in Kriegsgefangenschaft gestorben, wie so viele in Deutschland. Ich will hier keine Vulgärpsychologie ins Spiel bringen, aber bei den Mitläufern findet man häufig vulnerable Punkte aus der Kindheit. Sie sind anfällig für Erpressung – was bei den IM häufig der Fall war.  

Wie wichtig war dieses hautnahe Erleben der Ost-/West-Systeme für Ihre Entwicklung als Historiker? 
Es war absolut prägend. Im Grunde genommen habe ich mein ganzes Leben damit verbracht, Diktaturen verschiedener Art zu studieren.

Mein ganzes Leben als Historiker, als Schriftsteller, ist von dieser einen großen Entwicklung der letzten knapp 50 Jahre geprägt. Die DDR, Ost- und Mitteleuropa in den 1980er Jahren, aber dann eben auch die baltischen Staaten, Südosteuropa bis zum großen Krieg heute in der Ukraine: Der Zerfall des russischen Reichs ist der große geschichtliche Motor, der mich nun schon fast ein halbes Jahrhundert beschäftigt. 

In Ihrem neuen Buch „Europa: Eine persönliche Geschichte“ schlagen Sie den Bogen von der Landung Ihres Vaters als Soldat der Alliierten in der Normandie bis ins Heute. Vom Post-War-Europa zum Post-Wall-Europa, das mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ein Ende findet. Wo stehen wir jetzt? 

Es gibt ein Wort dafür: Zeitenwende. Es ist eines dieser deutschen Wörter, die ihren Weg ins Englische gefunden haben. Es trifft die aktuelle Lage genau. Nach 1945 und 1989 stehen wir wieder an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Und Anfänge, das möchte ich betonen, sind besonders wichtig – in der Geschichte wie im Leben. In den ersten fünf Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir die Grundlagen einer neuen globalen Ordnung geschaffen. Nach 1989 wiederum haben wir uns entschieden, bei dem bewährten, sicheren westlichen Modell zu bleiben und die beiden großen Einheiten des Euroatlantischen Westens, die Nato und die Europäische Union, nach Osten zu erweitern. Diese Ordnungen haben über Jahrzehnte gehalten. Deswegen ist es so wichtig, was wir heute machen. Wir sind im Jahr drei seit Kriegsbeginn in der Ukraine und es sieht nicht so gut aus. 

Sie engagieren sich stark für die Ukraine und setzen sich für eine sogenannte westdeutsche Lösung ein. Was ist aus Ihrer Sicht zu tun?

Das ist der größte Krieg seit 1945 und wir leben in München oder Düsseldorf, in Paris oder Madrid, als ob es immer noch ein normaler Frieden sei. Wir sprechen von Zeitenwende, haben aber nicht wirklich die Konsequenzen gezogen. Was wir machen müssten, ist, die Ukraine so zu stärken, auch militärisch und wirtschaftlich, dass Wladimir Putin nicht mehr das Gefühl hat, dass er diesen Krieg mit militärischen Mitteln gewinnt. Und dass die Ukraine dann aus einer Position der Stärke verhandeln kann und dann eine Zukunft hat wie damals Westdeutschland – leider de facto geteilt, aber dafür sicher im Westen. Das heißt: Aufnahme in die Europäische Union und in die Nato. Und danach kommen Moldawien und Georgien, auch frühere Teile des Russischen Reiches, die auf andere Weise sehr bedroht sind. Dazu braucht es wirklich Deutschland, denn Deutschland ist die Zentralmacht Europas. Wenn sich die Vereinigten Staaten unter Donald Trump weiter zurückziehen aus Europa, und vor allem aus der Unterstützung für die Ukraine, kommen wir ohne die strategische Führung von führenden europäischen Staaten, darunter unbedingt auch Deutschland, in dieser Richtung nicht weiter.  

Was können Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen in diesem Prozess leisten? 

Im Falle des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben die deutschen Russland-, Ost- und Mitteleuropa-Kenner an den Universitäten, aber auch in den Denkfabriken, in den Instituten, meines Erachtens eine hervorragende Rolle gespielt bei der Aufklärung der politischen Klasse und der öffentlichen Meinung darüber, was auf dem Spiel steht. Und was die Ukraine überhaupt ist. Denn seien wir ehrlich: Vor dem 24. Februar 2022 hatten die meisten Deutschen, die meisten Westeuropäer, wirklich kaum eine Ahnung von diesem Land.

Kann akademischer Austausch dabei helfen, in einer zunehmend polarisierten Welt Brücken zu schlagen? 

Lassen Sie mich bei Großbritannien anfangen. Die Zahlen derjenigen, die Deutsch lernen, sind dramatisch zurückgegangen – zugunsten des Spanischen, des Französischen oder auch des Chinesischen. Das ist wirklich ein Problem. Gerade nach dem Brexit müssen wir Sorge dafür tragen, dass diese intensive wissenschaftliche und kulturelle Beziehung zwischen Deutschland und Großbritannien nicht zugrunde geht. Auf anderer Ebene, mit der Ukraine, erleben wir geradezu eine Explosion von Austausch, von Besuchen, gemeinsamen Seminaren, Konferenzen und Publikationen. Die Frage ist nur: Wie tragfähig wird das sein? Bei anderen osteuropäischen Krisen in der damaligen Tschechoslowakei, in Polen oder im ehemaligen Jugoslawien haben wir immer wieder eine Welle des Enthusiasmus erlebt. Doch der verschwindet nach und nach. Daher ist es meines Erachtens sehr wichtig, dass wir dauerhafter Professorenstellen, Lehrstellen, Forschungsstellen einrichten, damit man wirklich begreift, dass diese Ukraine auch ein großes, bedeutendes und faszinierendes europäisches Land ist. 

In den 1980er Jahren waren Sie immer dort, wo gerade Weltgeschichte passierte – in Danziger Werfthallen, in Prag, in Budapest oder an der Berliner Mauer. In „Europa: Eine persönliche Geschichte“ sprechen Sie von Ihren „europäischen Heimatlandschaften“. Was macht diese europäische Identität für Sie aus? 
Ganz einfach gesprochen: Man ist als Europäer zu Hause im Ausland. Ich bin in Paris, ich bin in Berlin, ich bin in Kiew, ich bin ganz klar und deutlich im Ausland – aber irgendwie bin ich doch noch zu Hause, weil ich Europäer bin, und das ist das Wunderbare.

Diese tagtägliche Mischung aus Einheit und Vielfalt ist es, die das Europäische Haus ausmacht. Wir haben ganz unterschiedliche Geschichten, aber wir suchen eine gemeinsame Zukunft. In einem wie auch immer gearteten Haus Europa geht es darum, die bestmögliche Mischung zu finden: aus Einheit, wo sie notwendig ist, wie beispielsweise zunehmend in der Außen- und Sicherheitspolitik, und einer Vielfalt, die nationale und regionale Eigenheiten berücksichtigt.  

Welchen Rat würden Sie jungen Menschen geben, die Geschichte studieren und verstehen wollen, wie sie zu einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung beitragen können?

Erstens würde ich sagen: Folgen Sie Ihrem Herzen. Gehen Sie dorthin, ob es Geschichte ist oder vielleicht ein anderes Fach oder ein anderes Land, wo Sie es wirklich spannend finden. Und engagieren Sie sich mit Leidenschaft für das, was Sie interessiert. Das kann der Klimawandel sein, das Digitale oder alte Geschichte. Und zwar ohne sofort darüber nachzudenken, was es Ihnen im Berufsleben oder gar im öffentlichen Leben bringt. Machen Sie das ein paar Jahre – und dann gucken Sie sich um, wie Sie sich engagieren können. In Ihrem eigenen Land oder in Europa. 

Als Historiker betrachten Sie die langen Linien der Geschichte. Macht Ihnen das im Moment eher Angst oder Hoffnung? 

Angst. Oder sagen wir: Sorge. Und wie sollte man nicht besorgt sein, wenn in Europa Krieg ist? Wenn wir in fast allen europäischen Ländern rechtsradikale, populistische Parteien sehen, die bis zu 35 Prozent der Wählerstimmen bekommen. Auch im Herzen Westeuropas, in Frankreich, in Deutschland.

Wenn man den Zustand der Vereinigten Staaten, Bilder vom schnell fortschreitenden Klimawandel und die Lage in Asien sieht – wie kann man da nicht besorgt sein? Aber mein Motto ist und bleibt: Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens.

Man muss eine kalte, realistische und kritische Analyse dieser sehr komplizierten Wirklichkeit machen, ohne den Glauben und den Willen zu verlieren, dass wir daran etwas ändern können. 

Woher ziehen Sie die Kraft für diesen Willen? 

Vielleicht daraus, dass in meinem Leben das, was völlig unmöglich schien, möglich geworden ist. Es ist geschehen. Hätte 1978 jemand vorausgesagt, dass Deutschland wiedervereinigt, Berlin eins wird, dass Polen ein freies Land und die Europäische Gemeinschaft bis zu den baltischen Staaten reichen wird – niemand hätte es geglaubt. Wir sollten Politik also auch als die Kunst des Unmöglichen verstehen.