Grimm-Preise: Für sprachliche Vielfalt sensibilisieren

Der Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis des DAAD geht in diesem Jahr an Professor Ermenegildo Bidese, der an der Universität Trient lehrt und forscht. Mit seinen Publikationen hat sich der Syntax-Forscher nicht nur innerhalb der Germanistik einen Namen gemacht.
Professor Bidese, Sie untersuchen den Sprachkontakt, also die Interaktion deutscher Dialekte mit dem Italienischen. Welche Varietäten nehmen Sie dabei in den Fokus?
Mich interessiert insbesondere die grammatische Struktur des Zimbrischen und des Fersentalerischen, die seit Jahrhunderten im Nordwesten Italiens von Minderheiten gesprochen werden und im binnendeutschen Raum nicht zu finden sind. Auch die vier deutschen Dialekte im Friaul gehören zu meinem Schwerpunkt. Dabei handelt es sich um oberbairische Varianten des Deutschen, die sich durch den kontinuierlichen Sprachkontakt mit dem Italienischen über die Jahrhunderte hinweg verändert haben, ohne ihre Grundstruktur zu verlieren. Ich dokumentiere und erforsche den Wandel der deutschen Dialekte – im Gegensatz zu traditionellen Herangehensweisen der Germanistik, die Varietäten des Deutschen analysieren, welche einen alten Zustand der deutschen Sprache bewahren.
Inwiefern fühlen Sie sich mit den deutschen Minderheiten in Norditalien verbunden?
Ich selbst bin als italienischer Muttersprachler in einem Dorf im ehemaligen zimbrischsprachigen Land in der Provinz Vicenza aufgewachsen. Dort ist das Zimbrische schon seit Jahrhunderten als Verkehrssprache verschwunden, dennoch berichtete meine Großmutter immer wieder von den Erzählungen ihrer Ahnen, die das interkulturelle Zusammentreffen noch selbst miterlebt hatten. Zudem erinnern Flurnamen in meinem Heimatdorf daran, dass hier einst mehr deutsche Sprachgemeinschaften gelebt hatten. Dieser frühe Kontakt mit der deutschen Sprache und mein Interesse an der Philologie führten mich zum Philosophie- und Germanistikstudium an der Universität Innsbruck in Österreich und schließlich auch zu meinem Forschungsschwerpunkt.
Der enge Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt, Bochum und München ist mir äußerst wichtig
Prof. Dr. Ermenegildo Bidese
Mit welchen Aktivitäten setzen Sie sich für den Erhalt der deutschen Sprachgemeinschaften ein?
Mit meinen Vorlesungen und Seminaren mache ich auf die sprachliche Vielfalt Italiens aufmerksam. Dabei sehe ich es als meine Aufgabe, Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler für die Arbeit an den deutschen Dialekten zu begeistern, sie methodologisch gut auszurüsten und ihre Sprachkompetenz zu fördern. Nicht nur zu diesem Zweck setze ich mich für den Studierendenaustausch mit mehreren Partneruniversitäten in Deutschland ein: Der enge Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt, Bochum und München ist mir äußerst wichtig und hält unser Institut am Puls der Zeit des Fachs Germanistik. Auch abseits des universitären Betriebs sensibilisiere ich die Menschen für die Bedeutung der deutschen Minderheiten: beispielsweise mit Vorträgen oder der Unterstützung kultureller Initiativen und Projekte. Darüber hinaus arbeite ich mit Institutionen und Regierungsstellen zur Entwicklung von speziellen Programmen für die Sprachgemeinschaften zusammen.
Vor Ihrer Professur an der Universität Trient haben Sie in Frankfurt am Main in Philosophie promoviert und später dort in Linguistik auch habilitiert. Welche Eindrücke haben Sie aus der Mainmetropole nach Italien mitgenommen?
Insgesamt habe ich elf Jahre in Frankfurt gelebt und hatte dort in vielerlei Hinsicht eine schöne Zeit. Ich habe die Stadt immer als sehr lebendig wahrgenommen und mich als „echter Frankfurter“ gefühlt. Zudem habe ich dort meine Frau kennengelernt, und meine ältere Tochter ist in einem Krankenhaus in der Nähe der Innenstadt zur Welt gekommen. Auch an das berufliche Umfeld an der Johann Wolfgang Goethe-Universität erinnere ich mich sehr gerne: Mein Doktorvater gewährte mir genügend Freiraum, sodass ich intensiv an meiner Promotion arbeiten konnte. Noch heute genieße ich es, nach Frankfurt zurückzukehren: zum privaten Besuch, aber auch gemeinsam mit meinen Studierenden im Rahmen einer Kooperation mit dem Institut für Linguistik der Goethe-Universität.
Persönlich nehme ich den Preis als Ansporn, um mich weiter mit den deutschen Sprachgemeinschaften zu beschäftigen und den akademischen Nachwuchs dafür zu begeistern. Prof. Dr. Ermenegildo Bidese
Mit welchen Themen haben Sie sich in Frankfurt beschäftigt?
In meiner Promotion im Bereich Sprache und Kognition habe ich die linguistische Forschung Noam Chomskys mit der ethischen Reflexion Thomas von Aquins zusammengebracht. Dabei hatte ich den Anspruch, die großen Fragen der Philosophie mit den exakten, empirischen Methoden der Linguistik zu verbinden. Bei meinem zweiten aktuellen Forschungsschwerpunkt, dem Ursprung der Sprachkompetenz, nehme ich diesen Ansatz erneut auf: Auch hier interessiert mich der Komplex Sprache, Struktur und Kognition an der Schnittstelle von Linguistik und Philosophie.
Von welcher Fragestellung lassen Sie sich dabei leiten?
Ich untersuche, wie die Struktur der Sprache entstanden sein kann. Wie wir bereits wissen, setzt Sprache immer ein Abstraktionspotential und eine interne Konzeptionalisierung voraus: Emotionale Ausdrücke können als sprachliche Laute verstanden werden, wenn Menschen sie abstrahieren, also unabhängig vom konkreten Gefühl verwenden. Mich beschäftigt nun die Frage, wie es durch die Sprache zu dieser Abstraktion kommt – einer Fähigkeit, die es uns ermöglicht, die Welt zu klassifizieren, zu strukturieren und zu interpretieren. Begleitend zu meiner Forschung leite ich die akademische Zeitschrift „Evolutionary Linguistic Theory“, die mit Artikeln aus der Linguistik diese Debatte bereichert, dabei aber auch Erkenntnisse angrenzender Wissenschaften wie der Psychologie, der kognitiven Neurowissenschaften und der Philosophie miteinbezieht.
Was bedeutet es Ihnen, den Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis zu erhalten?
Als ich von der Auszeichnung erfuhr, war ich sehr überrascht und froh. Ich sehe es als Bestätigung und Anerkennung meiner langjährigen Arbeit, die in der Germanistik nicht selbstverständlich ist und damit nun an Aufmerksamkeit gewinnt. Gleichzeitig macht es den Stellenwert des Fachs Germanistik in Italien deutlich. Persönlich nehme ich den Preis als Ansporn, um mich weiter mit den deutschen Sprachgemeinschaften zu beschäftigen und den akademischen Nachwuchs dafür zu begeistern. Den einmonatigen Aufenthalt, der mit dem Grimm-Preis verbunden ist, werde ich zur Vertiefung meiner Forschung nutzen: An der Goethe-Universität in Frankfurt werde ich an einer linguistischen Beschreibung des Deutschen aus dem Blickwinkel der Sprachminderheiten arbeiten. Damit verfolge ich einen Ansatz, den es in dieser Form noch nicht gibt – die Untersuchung des Deutschen erfolgte bislang nur aus einer internen Perspektive.
Interview: Christina Pfänder (18. September 2024)